Zum Wintersemester 1950/51 übernahm Wolfgang Franke die Professur für Sinologie an der Universität Hamburg, die sein Vater Otto Franke von 1910 bis 1923 innegehabt hatte. Franke wurde Direktor des Seminars für Sprache und Kultur Chinas (1950-1970) und spielte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1977 eine wesentliche Rolle in der Neu-Aufstellung der Sinologie in Deutschland.
Wolfgang Frankes Berufungsurkunde (1950)
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs lag die deutsche Sinologie weitgehend am Boden. Viele Bibliotheken waren zerstört, qualifiziertes unbelastetes Personal für den Neuaufbau der Disziplin war rar. So war es für Franke als Ordinarius eine dringliche Aufgabe, das Fach in seinen institutionellen Strukturen wieder auf- und später auch auszubauen. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Schaffung einer zweiten Professur für Sinologie in Hamburg zu: 1967 gelang es, mit Liu Mau-Tsai (1914 – 2007) den ersten chinesischen Gelehrten auf eine sinologische Professur in Deutschland zu holen. Dieser vertrat die Hamburger Sinologie fortan ergänzend mit einem Schwerpunkt auf chinesischer Literatur.
In seiner Zeit als Ordinarius in Hamburg nutzte Franke die vielfältigen Möglichkeiten und Freiheiten, die sich ihm als Professor boten. Er hielt sich zu längeren Forschungsaufenthalten und Gastprofessuren in Japan, den USA, Malaysia und nach seiner Emeritierung auch in China auf. Währenddessen ließ er sich von namhaften internationalen Kolleg:innen vertreten, was der Hamburger Sinologie in der Nachkriegszeit ein besonderes Flair verlieh.
In seiner Forschung beschäftigte sich Franke seit den 1940er Jahren intensiv mit der Ming-Dynastie. Sein Ziel war es ursprünglich, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen und dessen „Geschichte des chinesischen Reiches“ für die Ming- und Qing-Dynastie fortzuschreiben. Dieses Vorhaben gab Wolfgang Franke in den 1960er Jahren zwar schweren Herzens auf, da er die staatspolitische Geschichtsauffassung seines Vaters, die von der Schule des preußischen Historismus geprägt war, nicht teilte. Die sinologische Quellensammlung und historische Forschung zum China der Ming-Zeit führte er allerdings in einer Vielzahl von Beiträgen fort. Diese Schwerpunktsetzung wirkte letztlich schulbildend: Die überwiegende Mehrzahl seiner Schüler:innen befasste sich in ihren Qualifikationsschriften mit historischen und im engeren Sinne sinologischen Aspekten der reichhaltigen Geschichte der Ming – was auch international auf breite Resonanz stieß.
Wolfgang Franke mit Hochschulabsolvent:innen des Department of Chinese-Studies in Kuala Lumpur (1970er Jahre) ©unbekannt
Das Herzensthema Wolfgang Frankes bildete ab Ende der 1960er Jahre die Erforschung der Geschichte der Auslandschinesen im südostasiatischen Raum. 1963 erhielt er das Angebot, eine Gastprofessur an der Universität Malaya in Kuala Lumpur zu übernehmen. In den folgenden drei Jahren lehrte er dort chinesische Geschichte und baute die neu gegründete Abteilung für China-Studien weiter auf. Der Aufenthalt in Malaysia ermöglichte es ihm nicht nur, in einem chinesischen Umfeld zu leben, während die Volksrepublik China noch weitgehend abgeschottet war, es eröffnete sich ihm zudem die Gelegenheit, vor Ort akribisch epigraphisches Material zur Geschichte der dort seit Jahrhunderten ansässigen Auslandschinesen zu sammeln. Die Erforschung der Geschichte der Auslandschinesen im südostasiatischen Raum bildete ab Ende der 1960er Jahre Frankes neuen Forschungsschwerpunkt, der in den folgenden Jahren, von 1971 bis 1974 auch von der DFG gefördert wurde. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1977 verbrachte Franke die überwiegende Zeit des Jahres in Malaysia, das für ihn zu einer zweiten Heimat geworden war. Er unternahm in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Reisen, die ihn durch viele Länder Südostasiens führten; die Früchte dieser Feldforschung, eine wahre Fülle epigraphischen Materials, veröffentlichte er in den 1990er Jahren in Form mehrerer Quellenbände. In der Forschung zur Geschichte von Auslandschinesen in Malaysia, Thailand und Indonesien gehören sie heute zur einschlägigen Grundlagenlektüre.
Im Gegensatz zur großen Mehrheit der deutschen Sinologie in den 1950er bis 1970er Jahren war Wolfgang Frankes Schaffen aber auch durch eine dezidierte Hinwendung zum modernen China geprägt.
1935 hatte Franke zu den Reformversuchen Kang Youweis in den letzten Jahren der Qing-Dynastie promoviert und auch in der Nachkriegszeit beschäftigte er sich in Monografien und Zeitschriftenbeiträgen ausführlich mit der jüngeren chinesischen Geschichte wie auch dem westlich-chinesischen Verhältnis. Zu nennen sind hier vor allem seine Studie „Das Jahrhundert der chinesischen Revolution 1851-1949“ (1958) ebenso wie seine Schrift „China und das Abendland“ (1962), die beide auch ins Englische übersetzt wurden und Franke zu einer wichtigen Mittler-Figur im zeitgenössischen populären China-Diskurs machten.
Wolfgang Franke und China-Kaufmann Eduard J. Solich (1893-1982) beim ostasiatischen Liebesmahl in Hamburg (1950er Jahre) ©unbekannt
Dass er sich zu diesen Themen ausführlich zu Wort meldete, gründet allerdings nicht darauf, dass Franke besonders politisch gewesen wäre – in seiner Autobiographie beschreibt er sich gar als unpolitischen Menschen. Die Lektüre seiner Autobiographie und der Interviews mit seinen Weggefährten lassen vielmehr den Eindruck entstehen, dass es zum einen Frankes Überzeugung war, dass man das zeitgenössische China und seine Beziehung zu den abendländischen Gesellschaften nicht verstehen könne, wenn man sich nicht mit der jüngeren Geschichte befasse; zum anderen sah er die dringende Notwendigkeit einer interkulturellen Vermittlung zwischen China und den westlichen Gesellschaften, um das Verstehen des jeweils „Anderen“ zu fördern. Gerade deshalb plädierte Franke auch für ein Verständnis von Sinologie, das Geschichte, Gesellschaft und Alltagskultur eines modernen Chinas in den Fokus rückt, statt sich ausschließlich philologisch mit klassischen Texten zu befassen. Besonders deutlichen Ausdruck findet dieser Ansatz in dem national wie international sehr gelobten „China Handbuch“ von 1974, in dem er gemeinsam mit seiner ehemaligen Schülerin, der Sinologin Brunhild Staiger (1938-2017), über 130 Autor:innen versammelte, die über 300 Kurz-Beiträge zu den verschiedensten Aspekten Chinas seit 1840 lieferten.
Die Herausgabe des China Handbuchs unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Ostasienkunde (DGOA) zeigt beispielhaft, dass Franke keineswegs nur eine internationale Forscherpersönlichkeit war, sondern sich darüber hinaus auch in den verschiedensten Institutionen und Gremien wissenschaftspolitisch engagierte. Neben der DGOA sind hier vor allem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Stiftung Volkswagenwerk zu nennen. Eine besondere Bedeutung hatte für Franke das Institut für Asienkunde (IfA) in Hamburg, das seit den späten 1950er Jahren als außeruniversitäres Forschungsinstitut, finanziert vor allem aus Mitteln des Auswärtigen Amts, einschlägige Studien zum zeitgenössischen China und dem südostasiatischen Raum lieferte. Über mehrere Jahrzehnte war er Mitglied im Vorstand des Instituts und kooperierte mit Mitarbeitern des Instituts auch in Lehre und Forschung.
Wolfgang Franke bei der Junior-Sinologen-Konferenz in England (1959) ©unbekannt
Wie wichtig Franke die interkulturelle Vermittlung war, zeigt sich auch daran, dass am sinologischen Seminar besonderer Wert gelegt wurde auf das Erlernen der modernen chinesischen Umgangssprache. Bis weit in die 1960er Jahre hinein war die Hamburger Sinologie das bundesweit einzige Seminar, an dem mit dem Studium des modernen Chinesisch begonnen wurde und erst später die klassische Schriftsprache gelehrt wurde. Hochschulpolitisch setzte er sich auch über die Grenzen seines Seminars hinaus für die Etablierung des modernen Chinas als festen Bestandteil des Sinologiestudiums ein.
Diese vielfältige Beschäftigung Frankes mit dem zeitgenössischen China und seine interkulturellen Bemühungen im öffentlichen Diskurs, nicht zuletzt auch in Form einschlägiger China-Hefte für die Bundeszentrale für Heimatdienst sowie ihren Nachfolger, die Bundeszentrale für politische Bildung, machte Franke auch im politischen Kontext zu einem viel gefragten Ansprechpartner. Frankes Beratung des Planungsstabes des Auswärtigen Amts zu ersten Überlegungen für eine deutsche Ostasienpolitik Ende der 1960er Jahre ebenso wie seine Rolle als Berater Walter Scheels im Kontext der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Herbst 1972 können dabei sicherlich als die zwei wichtigsten Episoden gelten.
Schütte: China (2016) ©Verlag Karl Baedeker
Wolfgang Franke war aber nicht nur eine wichtige Forscherpersönlichkeit und ein Mittler zwischen Ost und West, er war auch ein akademischer Lehrer, dessen Schüler später renommierte Professor:innen wurden; dazu zählen u.a. Tilemann Grimm, Bernd Eberstein, Boto Wiethoff, Monika Übelhör und auch Manfred Pohl in der Japanologie.
Aus der Hamburger Sinologie traten aber auch namhafte Persönlichkeiten hervor, die sich bewusst gegen die wissenschaftliche Laufbahn entschieden. Bestes Beispiel dafür ist der Sinologe und Publizist Hans-Wilm Schütte (1948-), der Ende der 1970er Jahre bei Franke zur marxistischen Geschichtsschreibung in der Volksrepublik China promoviert hatte. In den folgenden Jahrzehnten wurde er vor allem mit seiner Reiseführerliteratur zu einem der meistgelesenen China-Publizisten Deutschlands.
Das Wirken und Schaffen Frankes lässt sich nur schwer pointiert zusammenfassen; dem Publizist Hans-Wilm Schütte gelang es in einem Interview mit den Verfassern trotzdem:
Wolfgang Franke in seinem Arbeitszimmer (1986) ©unbekannt
„Viele Ausländer leben jahrelang in China, lernen aber nur so viel Chinesisch, wie sie für den Alltag brauchen und chinesisch schreiben und lesen lernen sie nie. Daheim gelten sie dann als Chinakenner, obwohl sie es keineswegs sind. Wolfgang Franke dagegen verhalf sein Chinaaufenthalt dank seiner Sprachkenntnisse zu einer Vertrautheit mit dem Land und seinen Traditionen, wie wenige andere sie damals (in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren) besaßen.
Diese Verbindung von wissenschaftlicher Tiefe mit der lebendigen Gegenwart ist es, was ich an seiner Art der Beschäftigung mit China für beispielhaft halte. Außerdem zeichnete ihn aus, dass er die Sammlung und Erschließung von Quellen als bedeutsam für die weitere Forschung erkannte. Das ist mühsame Arbeit, und man gewinnt damit keine großen Lorbeeren, aber man legt so ein Fundament, auf dem womöglich Generationen weiterer Forscher aufbauen können.“
(Quelle: schriftliches Interview der Verfasser mit Dr. Hans-Wilm Schütte, 15.09.2023)